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Für die einen ist er ein wesentliches Vorbild für Steven Spielbergs „Indiana Jones“, für andere ein genialer Dilettant, wieder andere schelten ihn einen skrupellosen Kunsträuber. An Heinrich Schliemann, der am 6. Januar 1822 in Neubukow bei Rostock geboren wurde, haben sich schon die Geister seiner Zeitgenossen geschieden. Aber kaltließ er sie nie. Denn er führte sie zu den Epen Homers, seinem Trojanischen Krieg – und damit zu den Wurzeln des Okzidents.
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Schliemanns Weg nach Troja verdankte sich vielen Zufällen und Glück. Die Kindheit in Mecklenburg war eher trist. Kurz nach seiner Geburt (als fünftes von insgesamt neun Geschwistern) übernahm sein Vater 1823 immerhin eine einträgliche Pfarrstelle im ostmecklenburgischen Ankershagen, blieb aber „ein liederlicher Mensch, ein Wüstling“, wie Schliemann Jahre später urteilte. Seine Mutter starb, als Heinrich gerade einmal neun Jahre alt war.

Als der Vater seine Stelle in Ankershagen verlor, reichte das Geld nicht aus, um dem begabten Sohn den Besuch des Gymnasiums zu ermöglichen. Also begann Heinrich Schliemann eine Kaufmannslehre, ging nach Hamburg, wo er fast unter die Räder gekommen wäre, und erlitt bei dem Versuch, nach Venezuela auszuwandern, vor den Niederlanden buchstäblich Schiffbruch. Mit einer Stelle als Kontorbote in Amsterdam hielt er sich über Wasser. Dort entdeckte er, wie leicht ihm das Sprachenlernen fiel. Bald beherrschte er Niederländisch, Spanisch, Portugiesisch und Italienisch.
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Dieses Talent wurde zur Grundlage einer steilen Karriere. Als Angestellter einer Hamburger Bank ging Schliemann 1846 nach St. Petersburg, wo er umgehend Russisch lernte und sich selbstständig machte. Der Handel mit Kolonialwaren und – vor allem – Rüstungsgütern, die er dem Zarenreich im Krimkrieg (1853 bis 1856) lieferte, machte ihn zum Multimillionär. Hinzu kamen geglückte Investitionen in den Bau von Eisenbahnen in den USA und den Goldrausch in Kalifornien; sie ließen ihn zu einem der reichsten Männer seiner Zeit werden.
Doch sein großes Ziel verlor er nie aus den Augen. Als Siebenjähriger habe er zu Weihnachten Georg Ludwig Jerrers „Weltgeschichte für Kinder“ geschenkt bekommen und in dem Buch eine Abbildung des brennenden Trojas entdeckt, schrieb er später. Das Bild ließ ihn nicht mehr los. „Mit Gottes Hilfe hat mich in allen Wechselfällen meines bewegten Lebens der feste Glaube an die Existenz Trojas niemals verlassen.“
Mit 34 Jahren lernte er 1856 in Paris Altgriechisch und Latein. Aber erst acht Jahre später konnte er seinen Traum verwirklichen, sein Geschäftsimperium verkaufen und sich fast ganz den Stätten der Homerischen Epen widmen. Zwar scheiterten erste Spurensuchen auf Ithaka, der Insel des Helden Odysseus, was Schliemann nicht hinderte, über seine Exkursion ein Buch zu schreiben, das von der Universität Rostock als Dissertation angenommen wurde.
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Der erste Lehrstuhl für Archäologie in Deutschland war erst 24 Jahre zuvor eingerichtet worden, und nur langsam begannen die Altertumswissenschaften, sich aus ihrem philologischen Korsett zu befreien. Das Graben nach Relikten der Vergangenheit war ein freies Feld, auf dem sich Fantasie begabte Offiziere ebenso austoben konnten wie britische Aristokraten. Mit seiner Mischung aus Textkenntnis, Euphorie und Realitätssinn sowie mit nahezu unbegrenzten Geldmitteln und weitreichenden Kontakten im Hintergrund konnte Schliemann Schneisen zu seinem Ziel schlagen, was anderen kaum möglich gewesen wäre.

Nachdem er 1870 mit der „Ilias“ in der Hand unweit des südöstlichen Ausgangs der Dardanellen den Hügel Hisarlik als Standort von Homers Troja identifiziert hatte, startete er erste Grabungen. Wenn sich die osmanischen Behörden quer stellten, ließ Schliemann Diplomaten der Großmächte intervenieren, denn inzwischen besaß er neben der russischen auch die US-Staatsbürgerschaft.
So generalstabsmäßig organisiert seine Kampagnen waren, so hemdsärmelig fielen seine Forschungen aus. Dass auf dem Hügel Hisarlik zehn unterschiedliche Siedlungsschichten übereinander lagen, die rund 3000 Jahre umspannten, erkannte er nicht. Stattdessen ließ er seine Helfer die Spaten rücksichtslos in die Tiefe treiben. So gelangte er 1873 zu seinem ersten spektakulären Fund: Tausende Schmuckstücke und Luxusobjekte.

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Für Schliemann konnte es sich nur um den „Schatz des Priamos“ handeln, des sagenhaften Königs von Troja, das die Griechen belagerten. Dass die Diademe, Kelche, Ringe und Vasen rund 1250 Jahre älter sind, also auf etwa 2500 v. Chr. datiert werden müssen, erkannte er nicht – eine seiner vielen Fehldeutungen.
Eine weitere ist mit seiner zweiten großen Ausgrabung verbunden, die er 1874 in Angriff nahm. In Mykene auf der Peloponnes wollte er die Burg des Agamemnon ausgraben, des Königs, der laut Homer das griechische Heer nach Troja geführt hatte. Auch dort machte er eine spektakuläre Entdeckung, als er 1876 auf fünf Schachtgräber stieß.
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Darin fanden sich Goldarbeiten mit einem Gesamtgewicht von mehr als 13 Kilogramm, darunter individuell gestaltete Gesichtsmasken, die er umgehend den Helden Homers zuordnete. Doch sein Telegramm an den griechischen König, er habe das Grab Agamemnons gefunden, schoss weit über das Ziel hinaus. Wie man heute weiß, wurden die Gräber mehr als 400 Jahre vor dem Trojanischen Krieg angelegt.
Man kann Schliemann für seine naiven Interpretationen schelten, mit denen er in seiner Zeit wahrlich nicht allein stand. Andererseits haben jüngste Untersuchungen gezeigt, dass die Gräber aus dem Gräberrund B in Mykene in eine Epoche gehören, in der sich die sogenannten Mykenische Kultur in Griechenland formierte. Mit seiner Grabungswut hat Schliemann der Wissenschaft also mit einem Schlag ein Tableau beschert, aus dem sich Forschergenerationen bedienen konnten.

Methodisch war das natürlich ein Desaster. Ganze Fundschichten blieben unkartiert und wurden einfach entsorgt, weil sie nicht in das Idealbild passten. Möglicherweise fielen dem in Hisarlik auch mit Keilschrift beschriebene, luftgetrocknete (also nicht gebrannte) Lehmziegel zum Opfer, weil Schliemann sie nicht als Dokumente erkannte und sie sich bei Regen in Schlamm auflösten. Das könnte erklären, warum es in Troja keine nennenswerten Schriftfunde gegeben hat.
Dem ist die kontrafaktische Frage entgegenzuhalten, wie dankbar sich die heutige Wissenschaft wohl Schliemann zeigen würde, wenn er seinen letzten Plan noch in die Tat umgesetzt hätte: Nach weiteren Grabungen in Orchomenos in Böotien und Tiryns am Argolischen Golf wollte er sich in Alexandria auf die Suche nach dem Grab Alexanders des Großen machen. Weil er es unterließ, blieb die Chance ungenutzt, weite Teile des antiken Stadtgeländes zu erforschen, bevor es von der modernen Metropole überwuchert wurde.

Dass die modernen Altertumswissenschaften gleichwohl allen Grund haben, Schliemann zu danken, hängt mit einem Charakterzug zusammen, der ihn neben seiner Träumerei antrieb. Mit geradezu egomaner Selbstdarstellung wurde er zum wichtigsten Botschafter seiner Projekte. Seine Bücher und mehr noch seine mäzenatischen Gaben wie der „Schatz des Priamos“, den eine sowjetische Trophäenkommission 1945 aus Berlin nach Moskau schaffte, oder die Goldmasken aus Mykene, die das Nationalmuseum in Athen bekam, haben ganze Generationen für die Archäologie begeistert.
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Dass die Frage um die historische Bedeutung Trojas Anfang des Jahrtausends die Feuilletons ebenso beherrschte wie die These des Schriftstellers Raoul Schrott, Homer sei ein assyrischer Lohnschreiber gewesen, zeigt, wie tief sich Schliemanns Lebenswerk in die Bildungskultur Europas eingeprägt hat. Seine Träume waren und wurden unsere Träume. Das machte ihn zu einem großen Archäologen über alle methodischen Niederungen hinaus.
Zum 200. Geburtstag soll die Ausstellung „Schliemanns Welten“ sein vielschichtige Wirken beleuchten. Das Museum für Vor- und Frühgeschichte der Staatlichen Museen zu Berlin will dafür vom 13. Mai bis zum 6. November etwa 700 Objekte in der James-Simon-Galerie und im Neuen Museum präsentieren.
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